Reformation und religiöser Pluralismus

Vor 499 Jahren veröffentlichte der Augustinermönch Martin Luther seine 95 Thesen gegen Missstände in der Kirche und befreite damit eine grundlegende biblische Erkenntnis vom Schutt der Geschichte: Wir Menschen können und brauchen unser Leben nicht selbst ganz und heil machen. Gott gibt unserem Leben Wert und Sinn, wir sind ihm so viel wert, dass er selbst Mensch wurde, für uns starb und auferstand.

Diesem Ereignis soll nun ein ganzes Jahr gewidmet sein, bis es sich am Reformationstag 2017 zum 500. Mal jährt.

Historische Jubiläen haben eine dialektische Falle: Man bedenkt ein geschichtliches Ereignis, weil es eine Bedeutung für die Gegenwart haben soll. Damit interpretiert man dieses Ereignis unter modernen Gesichtspunkten und löst es aus seinem historischen Kontext. Es soll ja modern erscheinen. Und lässt dabei oft die Herkunft und die historischen Grenzen außer Acht. Und das ruft Widerspruch hervor.

Diese dialektische Falle ist auch für das Reformationsgedenken aufgestellt. Luthers Thesenanschlag, der Beginn der Reformation und die Entdeckung (oder Wiederentdeckung) der im christlichen Glauben begründeten Freiheit wurden und werden als Beginn einer Freiheits-, Pluralitäts- und sogar Toleranzgeschichte behauptet.

Sicher: Luthers Anliegen einer Reform der Kirche führte bekanntlich zu einer Spaltung, geschichtlich entwickelten sich daraus noch weitere Kirchen mit evangelischen Wurzeln bis zur heutigen Vielfalt christlicher Konfessionen.

Aber unsere modernen Gedanken von Pluralität oder gar Toleranz lagen in der Epoche der Reformation noch in weiter Ferne. Dies wurde erst möglich, nachdem die beiden zentralen Akteure - Luther einerseits und Kaiser Karl V. sowie das Papsttum andererseits - mit ihren theologischen bzw. politischen Universalprogrammen gescheitert waren. Erst durch das Ende dieses Universalismus war der Weg frei für die kulturelle und politische Differenzierung Europas, langfristig auch für den weltanschaulichen Pluralismus moderner Gesellschaften.

Trotzdem ergeben sich aus der Reformation Luthers zentrale Aspekte für eine evangelische Perspektive auf die religiöse und weltanschauliche Vielfalt. Dazu muss man allerdings Luthers Überlegungen gegen ihn selbst richten – jedenfalls wenn es um Fragen von Pluralität und Toleranz geht

Unter historischen Gesichtspunkten bleibt festzuhalten, dass die westeuropäische, lateinische Christenheit am Ausgang des Mittelalters praktisch keine Begegnungen mit fremdem Glauben oder gar mit fremden Religionen kannte. Juden wurden im Mittelalter verfolgt, vertrieben oder in Ghettos gepackt. Der Islam trat als äußerer Feind in Gestalt des osmanischen Weltreichs auf. Reste paganer, heidnischer Vorstellungen wurden als Aberglaube gebrandmarkt oder als Hexerei verfolgt. Abweichenden Glaubensvorstellungen machte man den Ketzerprozess.

Statt Pluralität war die Vorstellung von Universalität leitend – und dies bei allen Akteuren jener Zeit. Universalität sah einen einheitlichen Glauben im ganzen Reich vor. Garanten und Repräsentanten dieser Universalität waren die römische Kirche, die sich als weltumfassende – „katholische“ – Bewahrerin der rechten Religion verstand, und der deutsche Kaiser in seiner Rolle als „Priester Christi“ (Sacerdos Christi) in der Verantwortung für Könige, Fürsten und Untertanen als einem christlichen Volk (Populus Christianus). In dem persönlichen Bekenntnis Karls V. auf dem Wormser Reichstag nach dem zweiten Verhör Luthers wird dieses Verständnis deutlich.

Aber auch bei Martin Luther findet sich das Leitbild des Universalismus anstelle moderner Toleranz. Wie alle seine Zeitgenossen verstand auch er seinen Glauben als universelle, weltweit allein gültige Wahrheit und sah seine Aufgabe darin, diese Wahrheit als ihr Prophet allen Menschen zu verkünden und dafür zu sorgen, dass sie überall in Kraft gesetzt werde.

Als sich weite Teile des Reichs der evangelischen Erneuerung des Christentums zu öffnen schienen, war es für Luther nur eine Frage der Zeit, bis diese Lehre überall Anerkennung finden würde. Als aber im Verlauf der 1520er Jahre der Widerstand gegen seine Lehre im katholischer Lager stärker wurde und auch innerhalb der reformatorischen Bewegung Gegner auftraten, die das wiederentdeckte Evangelium radikal und notfalls auch gewaltsam durchsetzen wollten – Thomas Münzer und die aufständischen Bauern, sein Kollege in Wittenberg Karlstadt, die „Zwickauer Propheten“, später das Münsteraner Täuferreich –, zeigten sich die Grenzen von Luthers Optimismus. Luther bekämpfte diese Entwicklungen zwar auch theologisch, sah aber bald die Notwendigkeit eines Eingriffs durch die politischen Obrigkeiten. Abweichungen von der reinen Lehre konnte Luther nicht dulden, gefährdeten sie doch die Ausbreitung des Evangeliums und die Freiheit des Gewissens der Einzelnen.

Diese Universalitätskonzepte waren in der Epoche der Reformation zum Scheitern verurteilt. Der politisch motivierte Universalismus Kaiser Karls V. zerbrach an der Entwicklung zum frühmodernen Territorialstaat, in dem sich die Fürsten Herrschaftsrechte aneigneten.

Der Verlust der Universalität hatte auch Folgen für das Papsttum. Zwar sorgten die innerkatholischen Reformbewegungen, besonders das Trienter Konzil, für neue Stabilität, aber der Anspruch der römischen Kirche, die umfassende Universalkirche zu sein, blieb fiktiv. Tatsächlich wurde sie nun eine partikulare Konfessionskirche geworden wie die reformatorische auch.

Luthers Eintreten für eine evangelische Erneuerung der Christenheit führte statt zu einer neuen Einheit zu separaten lutherischen und reformierten Landeskirchen.

Europa erlebte also am Ende des Mittelalters einen großen weltanschaulichen Differenzierungsschub. Zunächst jedoch beharrte jede Konfession weiterhin auf ihrem eigenen und alle anderen ausschließenden Wahrheitsanspruch, so dass diese konfessionalistische Polarisierung zu einem fundamentalistischen Willen zur gegenseitigen Vernichtung führte. Verbunden mit machtpolitischen Egoismen trieb Europa nach der Reformation in ein Zeitalter von Religions- und Staatenkriegen, das erst durch die großen Friedensverträge beendet wurde. Der Friedensschluss von 1555 regelte, dass es für jedes Gebiet auch weiterhin nur einen Glauben geben könne, nämlich den des Herrscherhauses: Cuius regio, eius religio. Es war eine friedensstiftende Maßnahme, insofern man in seinem Glauben frei blieb, diesen aber nicht überall ausüben durfte. Minderheitenrechte wurden erst im Westfälischen Frieden 1648 nach dem 30järigen Krieg eingeräumt. Dort wurde zwar auch die reformierte Konfession anerkannt, aber alle anderen wie die Täufer, die Mennoniten oder auch der jüdische Glaube blieben weiter auf der Strecke.

Der Weg zu religiöser Vielfalt führte zunächst in die „neue Welt“. Weil nicht wenige Glaubensgemeinschaften mit reformatorischen Wurzeln weiterhin verfolgt wurden oder zumindest mit dem Ergebnis der Reformation unzufrieden waren, wanderten sie aus und wollten auf dem amerikanischen Kontinent ihren Glauben von staatlichen Einflüssen freihalten. Diese Religionsfreiheit fand auch bald Eingang in europäische Verfassungen. Aus diesen Gemeinden entwickelten sich in Verbindung mit den Erweckungsbewegungen des 16.-19. Jahrhunderts die verschiedenen evangelischen Freikirchen, die eine eigene Organisationsform aber erst mit zunehmender Liberalisierung der staatlichen Religionspolitik bilden konnten.

In Deutschland dauerte es bis zum Ende des Kaiserreiches, als mit der Weimarer Reichsverfassung 1919 die Ungleichheit zwischen Landes- und Freikirchen beseitigt, die Staatskirche beendet und Religionsfreiheit und die Neutralität des Staates begründet wurden.

Nach dem 2. Weltkrieg allerdings waren es dann – endlich! – auch die Kirchen, die den Prozess gegenseitiger Versöhnung und Anerkennung maßgeblich vorantrieben und konfessionelle und schließlich auch religiöse Pluralität nicht nur negativ und als Infragestellung der eigenen Überzeugung ansahen, sondern zunehmend als Vielfalt zu schätzen lernten. Man lernte konkret, dass die Rede von der „Kirche“ in den christlichen Bekenntnissen immer eine Kirche jenseits der Konfessionsgrenzen meint, eine „transkonfessionelle“ Kirche – in Luthers Sprache: die „unsichtbare Kirche“. Jede einzelne konfessionelle Identität ist immer verankert zugleich in einer allgemein christlichen und einer spezifisch kirchlichen Identität – sonst wird sie sektiererisch. Der Weltkirchenrat spricht von „versöhnter Verschiedenheit“ und es kommt zu einer „Ökumene der Profile“. Hieraus ergibt sich auch notwendig der Dialog der Religionen.

 

Es war also ein weiter Weg, auf dem sich Pluralität und Toleranz durchgesetzt haben. Dies geschah nicht als Konzept – schon gar nicht als lutherisches! -, sondern auf dem Weg des Faktischen, nachdem klar wurde, dass sich auf dem Weg politischer Konflikte keine der Konfessionen durchsetzen konnte. Erst dann konnten auch außerkonfessionellen Bewegungen wie die Täufer immer freier hervortreten, schließlich die außerchristlichen Religion, allen voran die Juden, ebenso wie deistische und atheistische Gedanken.

Luther selbst hätte in dieser Entwicklung den unheilvollen Sieg Satans gesehen. Trotzdem hat seine Rebellion gegen den exklusiven Wahrheitsanspruch der Papstkirche dazu beigetragen, neuzeitlicher Toleranz und modernem Pluralismus den Weg zu ebnen. So mündete vor allem Luthers Grundunterscheidung zwischen göttlichem und weltlichem Handeln, seine Berufung auf das Gewissen des Einzelnen und damit die Schaffung eines inneren Freiraums gegenüber politischem Handeln in die grundsätzliche Unterscheidung von Religion und Politik – für Luther selbst undenkbar, aber dennoch eine Konsequenz der Reformation.

 

Wollen wir heute eine dem heutigen Pluralismus angemessene und zugleich  evangelische Position einnehmen, kann ein Rückblick auf Luther nicht ungebrochen geschehen. Er selbst zeigte sich einer Vielfalt von Glaubensformen gegenüber ja eher intolerant. Wir können aber auch sehen, dass seine Position immer dann besonders stark war, wenn er sich theologischer Argumente bediente. Ließ er sich von pragmatischen und gesellschaftspolitischen Fragen leiten, fiel er selbst wieder hinter seine Erkenntnisse zurück.

Ich plädiere also dafür, theologisch zu arbeiten und sich darin von Luther leiten zu lassen. Wir müssen also – ich sagte es schon – Luther gegen Luther positionieren und von seinen Grundüberlegungen aus den Pluralismus unserer Zeit in den Blick nehmen. Nur dann gelangen wir zu einer angemessenen Position zwischen Abschottung und Relativismus, zwischen Intoleranz und Beliebigkeit. In einer guten evangelischen Perspektive kann es gelingen, den gegenwärtigen Pluralismus positiv zu bewerten, ohne die eigene Position zu relativieren.

 

Pfr Andreas Hahn
Institut für Gemeindeentwicklung und missionarische Dienste
Olpe 35, 44135 Dortmund
Telefon: +49 (231) 54 09 52
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